Das weiße Mädchen

Kennen Sie den Film „Die Jury“ mit Samuel L. Jackson und Matthew McConaughey? Im Film erschießt ein Schwarzer in den Südstaaten der USA vor der versammelten Gemeinde die weißen Vergewaltiger seiner zehnjährigen Tochter. Ein ehrgeiziger, junger weißer Anwalt übernimmt die Verteidigung. Im Verlauf des Films werden die Abgründe und das daraus entstandene Leid des Rassismus nach allen Regeln der Kunst genutzt, um Sympathie für den angeklagten schwarzen Vater aufzubauen, der offensichtlich Selbstjustiz geübt hatte. Doch trotz des Verständnisses für die Tat und einem höchst unsympathischen und egoistischen Ankläger scheint die Verteidigung, juristisch durchaus korrekt, auf verlorenem Posten zu stehen, als der weiße Verteidiger mit seinem Abschlussplädoyer beginnt. Noch einmal schildert er die Vergewaltigung der zehnjährigen schwarzen Tonya Hailey auf ihrem Heimweg. Wie sie von ihren Peinigern wie Müll im Straßengraben vergessen wird und sich blutüberströmt nach Hause rettet. Wie der Vater vor Wut das Gesetz in die eigenen Hände nimmt und die Täter ermordet. So eindringlich, grausam und emotional die Erzählung auch ist, die Geschworenen zweifeln erkennbar, bis der junge Anwalt das System in dem sie denken mit seinem Abschlusssatz zerbricht: „Und jetzt stellen sie sich vor, das Mädchen wäre weiß.“

Gerade bei unserem Bild vom Menschen, vor allem in der Wahrnehmung anderer Menschen, sollten wir unsere Denksysteme durchbrechen: Die der bequemen Vorurteile des Vergangenheits-Schemas („Das war schon immer so“ bzw. „früher besser“) wie auch die Visionen vom humanitätsduseligen Eiapopeia einer idealen Zukunft. Will man ein kooperatives, lebensbejahendes, humanes und sinnhaft wirtschaftendes Unternehmen betreiben, helfen diese gängigen Systeme nicht weiter. Es gilt, nahe an uns Menschen heran zu treten und neben dem was uns gefällt auch das anzuschauen, was uns nicht gefällt und gefährlich werden wird, wenn wir es nicht berücksichtigen: Konflikte sind, da die Ziele von Menschen konkurrieren, unvermeidlich. Ob sie zu Katastrophen werden, hängt wesentlich von der gegenseitigen Wahrnehmung der Beteiligten ab.

In Vorträgen, Workshops und bei Beratungsprojekten mache ich gerne ein Experiment, um die Anwesenden aus ihrem Denksystem zu holen. Für das Spiel erhalten alle zwei unterschiedlich farbige Kartons, einen grünen (oder blauen, egal, aber ausreichend anders als rot) und einen roten. Dann zeige ich ihnen die Unterscheidung in die Menschentypen X und Y von Douglas McGregor, einem Motivationsforscher aus den sechziger Jahren.
Den Menschentyp X hat McGregor aus der Lehre des Scientific Management abgeleitet, die sich bis heute kaum verändert hat. Der Typus basiert auf der Beschreibung der Arbeiter, die innerhalb dieses Denksystems beschäftigt werden. Für das Experiment beschreibe ich ihn so:

Einstellung: Menschen arbeiten ungern, finden die Arbeit  langweilig und nervig und versuchen sie zu vermeiden.

Orientierung: Menschen muss man zwingen oder bestechen, für eine angemessene Anstrengung.

Verantwortung: Menschen bevorzugen Anweisungen und vermeiden Verantwortung..

Motivation: Menschen werden wesentlich über Geld motiviert und fürchten um die Sicherheit ihrer Arbeit.

Kreativität: Die Mehrheit der Menschen ist wenig kreativ – außer darin, Managementregeln zu umgehen.

Mit diesem Bild ist McGregor in die Welt hinaus gegangen und hat die dazugehörigen Menschen gesucht. Gefunden hat er Typ Y:

Einstellung: Menschen brauchen Arbeit und interessieren sich für sie. Ja sie macht sogar Spaß.

Orientierung: Menschen steuern und regulieren sich selbst in Richtung von Zielen, die sie akzeptieren.

Verantwortung: Menschen suchen und akzeptieren Verantwortung unter den richtigen Bedingungen.

Motivation: Menschen sind motiviert und wollen ihr eigenes Potenzial entfalten.

Kreativität: Kreativität und Vorstellungskraft sind verbreitet und werden selten angemessen ausgeschöpft.

Jetzt beginnt das Experiment. Machen Sie selbst mit und legen dazu einfach zwei Blatt Papier vor sich auf den Tisch. Meine Gruppe fordere ich jetzt auf, den grünen Karton zu nehmen (Sie können dafür das rechte Blatt Papier benutzen), sich zu konzentrieren und den Buchstaben aufzuschreiben, der für den Menschentyp steht, dem sie sich selbst zuordnen würden. Also welcher Menschentyp beschreibt Sie treffender, X oder Y? Wenn der Buchstabe notiert ist, wird der Karton dem Sitznachbar weiter gereicht. Jetzt wird der rote Karton genutzt (Sie nehmen das linke Blatt Papier). Bevor man hier etwas aufschreiben kann, gilt es, in sich zu gehen. Denken Sie über ihr Arbeitsleben nach, über die Kollegen, die Kunden, die Lieferanten und andere interne oder externe Geschäftspartner und schätzen Sie dann ein, wie viel Prozent dieser Menschen X-Typen sind. Wenn Sie sich für eine Zahl entschieden haben (50, 60 oder 80 Prozent), schreiben Sie sie auf. Die Teilnehmer geben nun den Karton wieder an den Nachbarn weiter, so dass jetzt erneut alle zwei Kartons vor sich haben, einen mit einem Buchstaben, den anderen mit einer Zahl. Dann nehmen alle den Karton mit dem Buchstaben in die Hand und ich fordere diejenigen auf, die Hand zu heben, die dort ein X lesen. Ich habe dieses Experiment sicherlich mit mehreren Hundert Menschen gemacht und nie hat sich jemand ernsthaft gemeldet. Danach frage ich, wie viele auf dem Karton mit der Zahl eine Null stehen haben. Wie ist es mit Ihnen?
In meinen Experimenten sind es maximal zwei Prozent der Teilnehmer, die hier eine Null lesen. Die Erkenntnis: Es gibt wohl keinen geistig gesunden Menschen, der sich selbst als überwiegend X identifizieren würde. X existiert demnach nur in unserem Kopf und ist ein Vorurteil über andere Menschen.
Jetzt geht normalerweise ein Raunen durch den Saal, die Widersprecher recken den Hals oder den Arm in die Höhe oder platzen einfach aus sich heraus mit Kommentaren wie: „Da waren sie aber noch nie bei uns.“ oder „So viel zum Beraterwissen. Sie sind so weit weg von der Realität, wie man nur sein kann.“ Ich warte das Raunen ab und dann mache ich das Mädchen weiß. „Ich bin überzeugt,“ sage ich „dass wir Y-Typen sind, doch eines ist klar: Wir alle können uns wie X-Typen verhalten und tun das auch regelmäßig. Das haben wir spätestens in der ersten Schulklasse gelernt!“

©Gebhard Borck

Gebhard Borck

Ich führe und berate seit über 10 Jahren. Ich habe zahlreiche Unternehmen unterschiedlicher Größe, Branchen und Nationen aus verschiedenen Blickwinkeln kennen gelernt. Als Autor bin ich seit 2004 tätig. Gemäß unserer Zeit habe ich vor allem in Onlineforen und -zeitschriften veröffentlicht sowie über mehre Jahre (2005 – 2008) gemeinsam mit Niels Pfläging die XING-Gruppe Beyond Budgeting inhaltlich voran getrieben und moderiert. Gemeinsam mit Niels und Andreas Zeuch habe ich 2008 die Kolumne bye bye Management bei changeX geschrieben. Affenmärchen ist mein erstes Buch. Seit 2009 veröffentliche ich gemeinsam mit meinen Netzwerk-Kollegen Andreas Zeuch und Markus Stegfellner. Bereits Ende der 90er Jahre befasste ich mich auch wissenschaftlich mit der Zukunft des Managements und habe meine Abschlussarbeit über Die Zukunft des Managements von selbststeuernden Prozessen verfasst. 

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