Verlorene Zeit – WG Seventy

Gertrud 70, Heiner 76, hatten eine nahezu zehnjährige, stressige Zeit mit der Pflege ihrer dementen Mutter, bzw. für Heiner Schwiegermutter, hinter sich. Da war nichts Lustiges dabei. Zehn Jahre, in denen sie nicht ihr, für den Ruhestand so schön geplantes Leben, sondern das, der kranken Mutter, mit leben mussten. Wer in solch ein Dasein keinen Einblick hat, kann nicht verstehen, dass man auf ein baldiges Ende hofft, sonst führt der Weg für die Betreuenden geradewegs in den Abgrund.

Als es soweit war, für beide Seiten das erlösendes Ende statt gefunden hatte, kam keine normale Trauer auf, eher dem Schicksal gegenüber eine gewisse Dankbarkeit für die Erlösung. Nun konnte sich wieder dem gegangenen Menschen erinnert werden , der er einmal vor der fürchterlichen Umnachtung war und den man so gern hatte.

Keine Trauer, eher ein breites Bedauern, dass man die Mutter nicht normal hat altern sehen können, um ihr viel Dankbarkeit und Annehmlichkeiten bewusst geben zu können, für ein, in ihrem Fall, entbehrungsreiches Leben im zweiten Weltkrieges.

Nun war plötzlich eine Situation geschaffen. Ein Aufatmen in einem akuten Vakuum, das doch wie lähmend wirkte. Eine momentane Leere, die so lähmte, wie nach dem Aufwachen aus einer Ohnmacht und uns zu keiner Aktivität anschiebt.

Wo waren jetzt all die Pläne und Vorhaben für die Zeit des Ruhestandes. Sie hatten sich in die Ablage, in die Versenkung verkrochen, waren aber noch nicht verstorben und konnten nach und nach wiederbelebt werden. Doch aber anders, als zu seiner Zeit vorgenommen. Was war jetzt anders? Man war von den geschilderten Sorgen erlöst, noch am Leben , – aber inzwischen selbst alt geworden.

Neu musste nun alles überdacht werden. Die vor einer Dekade geplanten Bildungsurlaube, mit Sprachseminaren, hatten nicht mehr den Reiz, plötzlich genügten die vorhandenen, nicht so perfekten Sprachkenntnisse.

Die Fortbildung wurde in Programme verlagert, wie Phönix und Co. Verpasste Zukunft, obwohl man ihn gerne gepflegt hat, den noch älteren Menschen, obwohl man ihn geliebt hat. Vielleicht klingst das grausam, vielleicht können solche Gefühle auch nur Menschen nachfühlen, die selbst einmal in ähnlicher Lage waren.

Die Aktiv-Urlaube mit Exkursionen, welche eine nicht mehr vorhandene Geländegängigkeit erfordern, durften vergessen werden. Man war zwar noch nicht lahm, dennoch kein Wiesel mehr und blieb öfters gerne im ersten Gang. Vorrang hatten nun gemütliche, Seniorengerechte Pensionen ohne Kinderfreundlichkeit.

Sanfte Landschaften mit angenehmen Spazierwegen schweben vor. Dem abenteuerlichen Kämpfen in rauer Brandung der Playa auf Gomera wird jetzt ein gemächliches Planschen im geheizten Hotelpool vorgezogen. Ach, – man sieht es ein, das jugendlich Agile ist dahin und doch, sofern man nicht verzagt, gar bedauernd sich verkriecht kann eine unerwartete Tür aufgehen.

Die Tür ist ein buntes Tor. Es führte in den alten, doch schön sanierten Bauernhof in der mecklenburgischen Schweiz. Er beherbergt, für diese berglose Landschaft ausreichend geländegängige alte Mädels und Buben, in denen trotz der kleinen Wehwehchen ein jung gebliebenes Herz klopft. Eine Senioren-WG ab Siebzig.

Getrenntes Wohnen, aber gemeinsames Erleben. Jeder darf tun und lassen was er will, nur nicht den Mitbewohner in dessen gewünschter Freiheit einschränken. Wer Hilfe braucht bekommt sie und wer helfen will tut es. Jeder der Lust hat, darf die Schafe auf der Weide jagen oder die Karnickel mit Löwenzahn verwöhnen. Der Mops gehört allen. Wer ihn überfüttert muss eine Woche bei Wasser und hartem Zwieback, dass die Prothese bröckelt, in den Karzer, den ehemalige Ziegenstall.

Ansonsten nur Friede, Freude und Eierkuchen, die oft gemeinsam in der großen Wohnküche gebacken werden. Auch Nettigkeiten kommen vor, wie heute Morgen, als der spitze Erwin trotz seines Rheumas in den Rosenstrauch kroch und ein schönes Buschröschen Witwe Elfriede neben das Frühstücksei legte. Sie war freudig gerührt und hat ihm den zerstochenen Finger liebevoll verbunden.

©h.boxxan