Der Flüchtling als ultimative Inkarnation der Menschenrechte?

 

Die Flüchtlings-„Krise“ (), die heutzutage ein fester Bestandteil unseres Alltags geworden ist, spaltet die Menschheit in zwei unterschiedliche Lager: Ablehnung oder Gleichgültigkeit einerseits und heuchlerische Moralapostel ohne jeglichen Sinn konkreten Handelns andererseits.
Es ist somit dringend notwendig diesen Zustand zu überwinden, um das Problem zu konfrontieren und der kritischen Frage der Prävention und des Managements, die zunehmend an Bedeutung gewinnt, entgegenzutreten.
Wenn wir der Flüchtlingsfrage besondere Aufmerksamkeit schenken, dann ist das nicht nur dem Einfluss der Nachrichten, die regelmäßig von wachsenden Migrationsströmen der Menschen aus Syrien, Libyen und anderen, in Chaos und Armut versinkenden Ländern, berichten, zu verdanken. Sondern auch und vor allem, weil der Flüchtling als solcher die ultimative Verkörperung eines gesetzlosen Menschen darstellt, welche das ultimative Ziel allen humanistischen Denkens darstellt.
Ja, wie genau kann man einen Flüchtling anders definieren, als ihn als einen Menschen zu bezeichnen? Er hat als Mensch alle Qualitäten und Verbindungen verloren, die im Normalgebrauch die Rechte eines Individuums ausmachen. Er hat keine Nationalität mehr, weder Eigentum, noch Papiere.

Ein Geflohener präsentiert einen Menschen ohne Attribute, ja, einen Menschen im reinsten aller Sinne.

Die Geschichte hat uns bereits mehrfach gezeigt, zu welchem Punkt sie dazu in der Lage ist, die Menschheit und ihre extrinsischen Rechte der Zugehörigkeit zu beschränken. Die römischen und griechischen Sklaven der Antike, Indianer und Schwarzafrikaner, Juden und Zigeuner des dritten Reiches sind Beispiele solcher Menschenklassen, denen die Menschenrechte, aufgrund von Schwierigkeiten der Attributszuordnung, abgesprochen oder verweigert wurden.
Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte () ist widersprüchlich in sich selbst: Handelt es sich hierbei wirklich um zwei zusammenhanglose Sachen und ist Zweiteres wirklich ein notwendiges Attribut zu Ersterem?
Und genau hier liegt der springende Punkt, der zeigt, wie wichtig es ist darüber nachzudenken, wie wir das Problem der Flüchtlinge annähern können, weil sie gut die neue Kategorie der Menschen ohne Rechte unserer Zeit werden könnte.

Ein neuer politischer Horizont

In seinem Kommentar zu Hannah Arendts Aufsatz „Wir Flüchtlinge“ äußert sich der italienische Philosoph Giorgio Agamben mit einer ersten Überlegung jüdischer Menschen als Flüchtlinge anzusehen. Er sieht es als eines der Hauptprobleme des Endes des zwanzigsten Jahrhunderts an .
Darüber hinaus formuliert er eine originelle Idee: Laut ihm kann ein Flüchtling in Zeiten des Zerfalls nationaler Staaten und traditioneller, politisch-legaler Kategorien, schnell zur Figur der modernen Menschheit werden, ein Zustand, der uns alle betreffen könnte.
Die Nationalstaaten, die bisher nur die Rolle erfüllt haben den Menschen eine Staatsbürgerschaft und somit einhergehende Rechte zuzusprechen, werden in ihrem traditionellen Sinn langsam verschwinden.
Es ist außerdem nahezu unmöglich die Schwächung oder sogar weitgehende Zerstörung großer Staaten wie Libyen oder Syrien heutzutage, die der stetig anwachsende Flüchtlingsstrom mit sich bringt, zu ignorieren.
Von dort aus argumentiert Agamben, dass der Flüchtling als solcher die einzige Kategorie ist, von der aus es möglich erscheint die Grenzen und Formen der politischen Gemeinschaft der Zukunft abzulesen. Sie wird somit zum Horizont, zum Rahmen, der die Grenzen unser gegenwärtigen Institutionen infrage stellt.
In „Imperialismus“, dem zweiten Band von „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ entwickelte Hannah Arendt bereits die Idee, dass die Menschenrechte untrennbar mit der Existenz von Nationalstaaten verbunden sind und dass das Verschwinden dieser zu ihrer allmählichen Auflösung führen würde. Ihrer Meinung nach scheitern die Menschenrechte daran den Menschen ohne Staatsbürgerschaft und somit den „reinen“ Menschen ohne Attribute zu verteidigen.
Paradoxerweise bilden die Flüchtlinge nicht die Inkarnation der Menschenrechte, sondern stattdessen die Krise. Sie zeigen, dass es immer noch keinen Platz für solche „reinen“ Menschen in unserer Politik gibt und wie sich die überholten Kategorien der Menschenrechte oder des Asyls noch zu stark auf den Umfang der Nationalstaaten beschränken und somit hinfällig sind. Es ist also dringend notwendig, die Kategorien zu erneuern und zu erweitern.
Die Flüchtlinge brechen die Identität zwischen Menschen und Bürgern auf, welche bisher sinngetränkt in unseren Köpfen existierte. Agamben kommt zum dem Entschluss, dass das politische Überleben der Menschheit nur möglich ist, wenn wir uns eingestehen selbst ein Flüchtling zu sein.

Viele Tabus sind aufzuheben

Das Flüchtlings-Phänomen ist im Hinblick auf seine intellektuelle Entfaltung zum Scheitern verurteilt, da es unmittelbar mit Kriegen und wirtschaftlichen Veränderungen, sowie Klimawandel, dem Mangel an Wasserversorgung und dem globalen Rückgang der Reserven fossiler Energien im Zusammenhang steht.
Laut des Philosophen Slavoj Zizek sind die Flüchtlinge der Preis einer kapitalistischen Weltwirtschaft. Es ist in der Tat ein Widerspruch in einer Welt zu leben, die die freie Zirkulation von Reichtum erlaubt, nicht aber die der Menschen. Mit anderen Worten existiert ein wirtschaftlicher Liberalismus, aber ein humanitärer Protektionismus.
Zur Verwaltung des besprochenen Problems ist es notwendig, viele Tabus zu überkommen: eine Neudefinition der Begriffe Souveränität, Grenzen, Asyl, Interferenz wird vorausgesetzt und bedarf einer Neustrukturierung der internationalen Zusammenarbeit. Zugleich bedeutet dies das Wirtschaftssystem, das die Ausgrenzung und Entfremdung erzeugt, zu hinterfragen, auch wenn es die Freiheit des Einzelnen legitimiert.
Es ist dringend notwendig den globalen Kapitalismus und die Folgen geopolitischer Machtspiele zu überdenken und diese zugunsten einer integrativen Wirtschaft zu wenden: Es ist der einzige Weg die Bedingungen aus denen Flüchtlinge geschaffen werden, zu bekämpfen.

Note:
LeMonde: “Crise des réfugiés: l’Europe vit un moment historique
Legifrance.gouv.fr: Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen de 1789
Arendt Hannah, “Nous autres réfugiés”, Cairn, Pouvoirs 1/2013 (n° 144) , p. 5-16
Giorgio Agamben,”Means without End. Notes on Politics” Novact in: Theory Out of Bounds, Vol. 20 (Minneapolis/London: University of Minnesota Press, 2000).
Wikipedia: “Référence: Les origine du Totalitarisme (Hannah Arendt)

©Hendrikje Joksch