Master and Servant

 

Andreas war jetzt seit einigen Jahren mit der Bereichsleitung betraut. Im Konzern war es einer der kleinsten Bereiche, zählten zu ihm doch gerade einmal 28 Mitarbeiter, Führung inklusive. Da kannte jeder jeden persönlich. Trotzdem war es ein selbständiger Geschäftsbereich, denn Andreas trug die Verantwortung für die Entwicklung, die Produktion, die Verpackung und die Vertriebslogistik des Produktes und sein Vorgesetzter war Mitglied des Direktionsgremiums des Standortes. Darüber kam nur noch die Konzernzentrale. Ihr Produkt war eine Cash-Cow – wenig und kontrollierter Aufwand bei zugleich enormem Ertrag. Andreas hatte so etwas wie Narrenfreiheit, war er doch der einzige im ganzen Konzern, der wirklich die gesamte Versorgungskette und das Produkt mit seinen physikalischen und chemischen Eigenschaften kannte. An diesem Freitagmorgen bekam er eine Nachricht, die den Narren in ihm heraus forderte.

Ohne Zwischenstation über seinen Chef erhielt er aus einem Verwaltungsbereich der Konzernzentrale die Anweisung bis zum kommenden Dienstag eine Liste von drei Mitarbeitern zu erstellen, die laut seiner Einschätzung entbehrlich waren. Grund: Im Rahmen von COPE (Cost Efficiency Personal Economization) hatte eine Analyse der Leistungsdaten ergeben, dass in seinem Bereich 3,4 Mitarbeiter über Bedarf arbeiteten. In einem Vorstandsbeschluss war daraufhin entschieden worden, alle entsprechenden Potentiale auf die nächst niedrigere Zahl abzurunden und als Zielvorgabe für die notwendigen Einsparungen festzulegen. Andreas balancierte das Memo einige Zeit zwischen seinen Fingern, füllte die darunter aufgedruckte Tabelle aus, die zur Rückmeldung genutzt werden sollte und schickte das Memo via Fax zurück an die Verwaltung. Knapp eine halbe Stunde später wurde er in das Büro seines Chefs zitiert; jetzt musste er schmunzeln.
„Was hast du dir dabei gedacht!?“ Andreas Chef überging jede Begrüßungsfloskel „Mich, dich und deine einzige Führungskraft auf die Liste zu setzen?“ Ohne Eile setzte sich Andreas auf den Stuhl gegenüber dem schweren Schreibtisch. „Na ja, auf dem Memo stand: Die Mitarbeiter, die laut meiner Einschätzung am entbehrlichsten sind. Du, der Kollege und ich sind nur mit administrativen Aufgaben betraut. Wenn wir gegangen werden läuft die Produktion und damit die Wertschöpfung problemlos weiter, bis es eine Produktänderung zu geben hat, und die kann ja dann auch die Zentrale vorgeben.“ Sein Chef wogte gegen die schelmische Ruhe von Andreas an, der nicht von seinen Vorschlägen abwich. Das Ende vom Lied: Niemand wurde entlassen.

Ob Sie es glauben oder nicht, die Geschichte ist wahr und hat sich so zugetragen. Worum geht es dabei? Immo Sennewald nennt es in seinem Buch „Der menschliche Kosmos“ das Dominanzprinzip und beweist anhand der Goetheschen Metaphern »Leiden oder triumphieren« und »Amboss oder Hammer sein«, dessen kulturellen Rang. Andreas wird von der Verwaltung, einem identitätslosen Massenapparat, zum Amboss gemacht. Das kann er nicht auf sich sitzen lassen und probt den Aufstand mit dem Ziel, selbst Hammer zu werden. Jetzt wird der Chef von der Verwaltung zum Leidenden erklärt und versucht seinerseits zu triumphieren. Derweil haben Andreas‘ Mitarbeiter nicht einmal die Chance, in die Nähe des Hammers zu kommen. Gleich zwei zu Naturgesetzen erhobene Kulturphänomene macht diese Geschichte deutlich:
Erstens, das Prinzip des Siegens um jeden Preis. Es geht nicht um die Kosten, den Aufwand oder das Leid, das damit verursacht wird. Es geht um den Sieg. Keiner hat am Ende überprüft, ob die Aufwandsanalyse korrekt war und das Unternehmen an dieser Stelle wirklich Geld verschwendet hat. Schließlich ist klar, dass der Gewinner auf jeden Fall auch Recht hat: Das Recht des Stärkeren. Es ist immer noch Grundpfeiler der Alltagskultur. Die Machtfrage – die Entscheidung in der Frage „Wer – wen“ sagen Leninisten – sie geistert in allen irgend vorstellbaren Verkleidungen und Masken durch die Managementliteratur. Durch Verweise auf historische Vorbilder von Alexander bis Friedrich dem Großen, von Scharnhorst bis Steve Jobs befestigen karrieregeile Autoren die Einstellung: Zum Erfolg braucht es Dominanz.
Zweitens, Das Schuldprinzip von Ursache und Wirkung oder hier im Speziellen, die Fokussierung auf eine in der Vergangenheit durchgeführte Analyse – Leistungsmessung – zum Zweck der Handlungsveränderung in der Gegenwart – Mitarbeiterentlassung. Es wird nicht versucht die Ziele, Visionen und die Strategien von Andreas und seinen Mitarbeitern zu verstehen. Es wird nicht geschaut wo diese Menschen hin wollen, hin könnten. Stattdessen wird untersucht, was sie irgendwann einmal nicht gut genug gemacht haben, also woran sie schuld sind. Im Anschluss geht es dann darum, das „falsche“ Vergangene „richtig“ zu machen, zu korrigieren. Das gelänge, wenn wir via Zeitreise etwas in der Vergangenheit korrigieren könnten. Wir Menschen handeln allerdings immer in der Gegenwart in die Zukunft hinein. Selbst wenn wir einen vergangenen Fehler zu korrigieren versuchen, schaffen wir dadurch nur eine neue und andere Wirklichkeit. Auch das erörtert „Der menschliche Kosmos“, und er zeigt, wie unser fortwährend Zukunft und Vergangenheiten konstruierendes Gehirn uns auf Kausalität fixiert, auf fortwährende Suche nach Fehlern und Schuldigen. „Das älteste und unentbehrlichste Haustier des Menschen“, meint Sennewald lakonisch, „ist der Sündenbock“.
Wollen wir kooperativ und lebensbejahend zusammen arbeiten, gilt es, unsere Dogmen von Dominanz und Schuld zu verlassen. Lassen wir sie am Wegesrand zurück, haben wir die Wahl, ob wir in eine Konfrontation gehen, um auf Basis von Aggressivität, gar Destruktivität zu siegen und Recht zu haben oder auf Grundlage von Kooperation und Vitalität die Zukunft zu gestalten. Natürlich kann man uns Menschen auf Herren und Diener reduzieren, wer es nicht tut, schafft vor allem sich selbst neue Handlungs- und Möglichkeitsräume!

©Gebhard Borck

Gebhard Borck

Ich führe und berate seit über 10 Jahren. Ich habe zahlreiche Unternehmen unterschiedlicher Größe, Branchen und Nationen aus verschiedenen Blickwinkeln kennen gelernt. Als Autor bin ich seit 2004 tätig. Gemäß unserer Zeit habe ich vor allem in Onlineforen und -zeitschriften veröffentlicht sowie über mehre Jahre (2005 – 2008) gemeinsam mit Niels Pfläging die XING-Gruppe Beyond Budgeting inhaltlich voran getrieben und moderiert. Gemeinsam mit Niels und Andreas Zeuch habe ich 2008 die Kolumne bye bye Management bei changeX geschrieben. Affenmärchen ist mein erstes Buch. Seit 2009 veröffentliche ich gemeinsam mit meinen Netzwerk-Kollegen Andreas Zeuch und Markus Stegfellner. Bereits Ende der 90er Jahre befasste ich mich auch wissenschaftlich mit der Zukunft des Managements und habe meine Abschlussarbeit über Die Zukunft des Managements von selbststeuernden Prozessen verfasst. 

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