DIE ZWEITE AUFKLÄRUNG

Wir leben in einem wuchernden System der Angst und der Schuld. Immer mehr Menschen empfinden einen ständig wachsenden Druck, ohne ihn genau beschreiben oder benennen zu können. Immer weniger Familien können sich mit dem Einkommen nur eines Ernährers über Wasser halten.

Immer mehr Werte müssen dem alltäglichen Überlebenskampf geopfert werden. Die Abhängigkeiten eines Großteils der Menschen nehmen zu. Die persönliche Freiheit des Einzelnen, aber auch der vielen miteinander vernetzten Gemeinschaften, die erst eine Gesellschaft mit gegenseitiger Achtung, Verantwortung und Liebe schaffen, wird durch die Fülle neuer Medien vermeintlich größer, führt aber in Wahrheit nur in weitere Abhängigkeiten und letztlich zu einer Unmündigkeit oder Unfähigkeit, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, das Wertvolle vom unnützen Ballast der Dinge unterscheiden zu können.

Finden Sie nicht auch, dass es an der Zeit ist, Ängste aufzubrechen, Schuld abzulegen und Täuschung nicht länger zuzulassen?

Um die Lebensbedingungen zu ändern, die unsere Gedanken- und Gefühlswelten bedrohen, müssen wir sie zuerst einmal erkennen. Wir müssen die Mechanismen durchschauen lernen, die uns unmündig und ängstlich im Ist-Zustand verharren lassen. Wir müssen erkennen können, dass alle Angst-Mechanismen nicht als kriminelles Verhalten Einzelner funktionieren, sondern eher das Ergebnis von Unwissenheit, Arglosigkeit und Dummheit sind – und insofern eine Frage der Aufklärung.

Als die Menschen im Spätmittelalter und während der Epoche der Renaissance sich nicht länger vom System eines religiös-ideologischen Dogmas unterdrücken lassen wollten und von einem auf Angst (vor dem Ungewissen, vor der Zukunft, vor der Hölle, vor dem Lehnsherrn, vor der Pacht usw.) und Schuld (Erbsünde, alltägliche Sünden, Ablasshandel) basierenden Apparat in dauernder Demut halten lassen wollten, da suchten und fanden sie Zuflucht, Trost und Auswege in der Kunst und in der Bildung. Es entstanden in ihrer Schönheit und Tiefe bis heute nachwirkende Werke von Luther über Galilei bis Michelangelo oder Leonardo. Die Epoche der Aufklärung hat dann geholfen, die alten Ängste endgültig zu überwinden und den dreigliedrigen Menschen und seine Stellung in der Welt auch ohne den Schuld-und-Sühne-Begriff glaubhaft zu erklären.

Doch dann sorgte die beginnende industrielle Revolution für neue Abhängigkeiten und eine neue Entfremdung des Menschen von seiner wahren Natur. In der Neuzeit mit ihrer rasanten Informations- und Medientechnologie wurde dieser Trend gestärkt. In dem Maße, wie menschlicher Erfindungsgeist vermeintlich neue Dimensionen erschloss, ging das uralte Wissen um die Kräfte, die dem Menschenwesen seit Anbeginn des Seins innewohnen, verloren.

Wer glaubt heute noch an die Kraft einer heilenden Hand? Wer will seinem jugendlichen Kind ernsthaft Handy oder Internet verbieten, bloß weil die schädlichen Funk-Emissionen nachweislich die Keimbahnen des Heranwachsenden im Wachstum hemmen? Wer vertraut den eigenen Sinnesorganen mehr als medizinischer Diagnostik?

Unser Lebensalltag hat sich in den vergangenen 50 Jahren dramatisch verändert. Veränderung muss nicht negativ sein. Aber Veränderung verändert. Diese Binsenweisheit ist nicht von der Hand zu weisen. Da unsere Belastungen sich verändert haben, hat sich auch die Kommunikation unseres Körpers, unserer Seele und unseres Geistes verändert. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gab es so viele Ärzte, Psychiater, Psychologen, Therapeuten und Heilpraktiker pro Kopf der Bevölkerung wie in der Gegenwart. Nie zuvor gab es eine solche Flut an medizinischen oder alternativen Anwendungen, Methoden und Techniken. Nie zuvor gab es einen solch hohen Konsum an Medikamenten und sogenannten Therapien. Nie zuvor musste eine Gesellschaft einen dermaßen großen Teil des Gesamteinkommens für die Gesundheit oder besser gesagt: für die vermeintliche Gesunderhaltung oder aber die vermeintliche Genesung aufbringen.

Weshalb fragt sich eigentlich niemand, warum die Anzahl der Erkrankten und der Erkrankungen trotz nie dagewesener Medikamentenmengen und Therapien nicht sinkt, sondern im Gegenteil beständig steigt?

Weshalb fällt es uns immer noch leichter, die Verantwortung für unsere Gesundheit in fremde Hände abzugeben? Die Antwort ist einfach: Es ist leichter eine Pille zu schlucken, als seinen Lebenswandel zu ändern. Lebenswandel ist eine Frage der Erziehung und der Bildung; eine Frage der Kontinuität und Konsequenz; eine Frage des Durchhaltens, des Willens und des Könnens.
Die Systeme der lähmenden Ängste und Abhängigkeiten in unserer angeblich so modernen Welt sind uralt: Wie vor Tausenden Jahren geht es auch heutzutage immer wieder darum, dass eine Minderheit aus purem Eigennutz der großen Mehrheit ihre allein seligmachende Wahrheit als die einzige Wahrheit zu verkaufen sucht.

Um das überzeugend und in großem Stil zu leisten, hat diese elitäre Minderheit sich stets mit den bestmöglichen Rahmenbedingungen ausgestattet. Ihre hellsten und fähigsten Köpfe haben sich Mittel und Wege ersonnen, um der Mehrheit ihre Fürsorge vorzugaukeln. Dieser Systematik verdanken wir die Politik, die Religion, die vermeintlich „soziale“ Marktwirtschaft, die Schulmedizin, das Gesundheitssystem und zahllose andere Systeme, die sich wenige Menschen ausgedacht haben, um möglichst viele Menschen in Abhängigkeiten zu (ver-) führen. Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Aber die Funktionsweise der Systeme ist immer ähnlich: Mache den Menschen genügend Angst und präsentiere dich dann als Retter, als Heilsbringer, als Heilender, als Pragmatiker usw. Sodann verstärke die Angst durch Abhängigkeit.

Das Ergebnis sind unsere heutigen Lebensumstände – ein Blick nach Griechenland, in die Elendsquartiere der Erde und auf die soziale Kälte westlicher Gesellschaften sollte als Beweis genügen.
Es ist an der Zeit, dass wir eine zweite Renaissance gebären und mit der nächsten Epoche der Aufklärung beginnen. Es gilt, eine vertraute Welt mit schützenswerten Idealen zu bewahren und uns gleichzeitig in eine lebenswerte Zukunft zu geleiten.

Wenn immer mehr Menschen sich ihre Ängste und Abhängigkeiten bewusst machen, dann ist das der Anfang vom Ende der schrecklichen Systeme.

©Peer St. John